Der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger in Babelsberg

Zu den bekanntesten Malern der Niederlande gehört Hieronymus Bosch. Seine um 1500 entstandenen phantastischen Paradiesbilder wie der „Garten der Lüste“ (Madrid) und unheimlichen Höllenpanoramen wie in der „Versuchung des heiligen Antonius“ (Lissabon) gaben Betrachtern jahrhundertelang Rätsel auf. Zu den tiefgründigsten Erforschern der geheimnisvollen Bildwelt Boschs gehört der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger (1890–1964), der seit 1952 bis zu seinem Tod in Babelsberg wohnte.

Der Kunsthistoriker Wilhelm Fraenger (1890–1964)

Nach dem Studium in Heidelberg und Stationen in Mannheim, Berlin und Brandenburg zog Fraenger 1952 in ein Haus in der Babelsberger Straße In der Aue, unmittelbar an der Grenze zu West-Berlin. Manuel R. Goldschmidt vom Verlag Castrum Peregrini in Amsterdam berichtet von einem Besuch dort:

„Fraenger bewohnte mit seiner Familie ein gemütliches Haus, das, etwas zurück von der Strasse gelegen, in einem grossen Garten stand. An den Wänden hingen gerahmte Bleistiftzeichnungen von Geisteskranken, die er von Hanz Prinzhorn in Heidelberg bekommen hatte: fesselnde, von Rand zu Rand vollgestrichelte Bilder. Auch an zwei Radierungen von Max Beckmann kann ich mich erinnern. Und, selbstverständlich, überall Bücher! Über dem Sofa, auf dem ich schlief, das Wörterbuch des deutschen Aberglaubens: ich konnte es nicht lassen, nachts darin zu stöbern. […] Wilhelms Fraengers Schreibtisch war über und über beladen mit Mappen, Büchern und Papieren.“

In der Aue setzte Fraenger als Privatgelehrter seine langjährige Bosch-Forschung fort. In detektivischer Ermittlungsarbeit vertiefte er sich in alle Details vom „Garten der Lüste“, den er „Das tausendjährige Reich“ nannte und in dem er das Kultbild eines gnostischen Geheimbundes in den Niederlanden erkannte. Der mit ihm befreundete Potsdamer Arzt Werner Hollmann berichtet:

„Durch Wilhelm Fraenger lernten wir eine ganz andere Kunstwissenschaft kennen als die bisher übliche. Manches Kunstwerk sahen wir jetzt ganz neu, denn unter seiner Schau erlebten wir vieles in einem viel weiteren Rahmen – einem Rahmen, der das ganz geistige Zeitgeschehen umfasste, aus dem heraus das Kunstwerk geschaffen worden war. Und oft wurde durch das Kunstwerk Verborgenes dieses Zeitgeschehens aufgedeckt. Sein Blick war so weit, weil ihm eine profunde Kenntnis auch des Hintergründigen und eine eminente Deutungskunst entsprach und weil diese Deutungskunst in einer eigentümlich packenden Sprache ihren Ausdruck fand – nicht nur in seinen Aufsätzen und Büchern, sondern auch in der Unterhaltung mit ihm. Wie lebendig wurde dadurch manches Kunstwerk und die Kunst schlechthin, aber auch, was er aus seinem Leben erzählte. Und wie hoffnungsvoll war das alles in der Zeit, in der Wilhelm Fraenger unser Freund wurde.“

Wie bei Bosch-Forschern üblich, blieben Fraengers Deutungen nicht unwidersprochen. Aber unabhängig von der Beurteilung seiner Interpretationen bleiben Fraengers Sprachgewalt, sein außerordentlicher Wortschatz und die Trefflichkeit seiner Beschreibungen ein faszinierendes Lektüreerlebnis. Sein Kollege Max J. Friedländer hatte Fraenger schon 1946 attestiert, seine Schriften leisteten „vielleicht das beste in sprachlicher Wiedergabe visueller Erfahrungen unter den Lebenden in Deutschland“.

1960 erwarb Fraenger ein Haus im nahegelegenen Tschaikowskyweg 4, das aber bis zu seinem Tod 1964 nicht genutzt werden konnte. Erst 1969 zogen seine Witwe Gustl Fraenger und die Adoptivtochter Ingeborg Baier-Fraenger dort ein. Sie transferierten Fraengers Bibliothek und Manuskripte dorthin und edierten seinen Nachlass. 1975 erschien im Dresdner VEB Verlag der Kunst ein monumentaler Bildband, der Fraengers lebenslange Bosch-Studien versammelte. Von diesem Werk, das in der DDR auch als Erkennungszeichen undogmatischen Denkens galt, kam 1990 die 9. Auflage heraus, neben Lizenzausgaben für die BRD erschienen Übersetzungen ins Ungarische, Englische und Polnische.

Zu den weiteren niederländischen Künstlern, zu denen Fraenger forschte, gehörten der Radierer Hercules Seghers und Pieter Bruegel der Ältere. Beide Studien waren bereits 1922 erschienen, wurden aber 1984 und 1999 noch einmal aufgelegt. Auch nach dem Tod von Ingeborg Baier-Fraenger blieb das Fraenger-Archiv im Tschaikowskyweg verwahrt, bis es vor wenigen Jahren mitsamt seiner Bibliothek vom Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam übernommen wurde. 2020 erschien das Verzeichnis „Die Bibliothek des Kunsthistorikers und Volkskundlers Wilhelm Fraenger“, hrsg. von Sonja Miltenberger und Klaus Neitmann, das über 3000 Titel aufführt. Die Gräber von Wilhelm und Gustl Fraenger sowie Ingeborg Baier-Fraenger finden sich auf dem Friedhof Goethestraße.

– Dr. Michael Philipp, Chefkurator, Museum Barberini

Titelbild: Bücher Wilhelm Fraengers │ Foto: Wilhelm-Fraenger-Gesellschaft e.V.