Ein ganzes Viertel Leben

Als der junge Fotografiestudent Eberhard Thonfeld Ende der 1970er Jahre – erst zufällig, dann gezielt – durchs Holländische Viertel in Potsdam schlendert, entdeckt er einen Kosmos für sich, der ihn befremdet, zugleich begeistert und von Beginn an nicht mehr loslässt. 

Was er auf seinen Streifzügen in dem zwischen 1733 und 1742 errichteten barocken Ensemble vorfindet, ist ein vom Krieg größtenteils verschontes, aber inzwischen weitgehend verfallendes Wohnquartier. Die Straßen sind holperig, die Dächer löchrig, die Fassaden und Innenbereiche vielfach ruinös. Eberhard Thonfeld beschließt das Holländische Viertel zum Thema seiner Diplomarbeit zu machen und beginnt mit einer Art „Tatort-Fotografie“, macht die fotografischen Aufnahmen zu Beweisstudien eines historischen Zerfallsprozesses. Dabei reizt ihn, so sagt er rückblickend, „der Inhalt mehr als die Form“. Ein Gefühl wiederzugeben und Geschichten zu erzählen, sei seine Absicht:

Es waren Menschen, die nicht darauf versessen waren, in Aufnahmen für die Nachwelt festgehalten zu werden, sich eher scheu in ihren Lebensraum zurückzogen, die aber eben darum ihren ganzen und ganz persönlichen Lebensraum preisgaben. 

Eberhard Thonfeld, 2022

In langen Gesprächen baut Thonfeld Vertrauen auf, das Fotografieren – fast ausschließlich in schwarz-weiß – geht dann recht schnell, ohne Stativ und Blitzanlage und wegen der lichtempfindlichen Filme mit grobem Korn. In Porträts und bewusst gewählten Bildausschnitten nähert sich der Fotograf dem Leben, das zu verschwinden droht: kleine Handwerksbetriebe, Hinterhofidyllen, Verkaufsläden und die Menschen, die dahinter stehen. In konzentrierten Werkstattbildern und Porträts hält Thonfeld das alltägliche Leben sowie die Arbeitswelt im Viertel fest. Er blickt in Handwerksbetriebe, deren Gewerke heute teilweise nicht mehr existieren. Panoramen mit erhöhten Standpunkten und Serien von Totalen geben einen Überblick über das Gebiet und zeigen, was architektonisch auf dem Spiel steht, wenn nicht gehandelt wird.  

Zwar hatten die Potsdamer Stadtverordneten im Jahr 1975 entschieden, das Holländische Viertel als Ganzes zu erhalten und zu sanieren – ab September 1979 steht es dann als Stadtensemble unter Denkmalschutz –, doch erst einmal passiert nicht viel. Als der junge Student aus Leipzig 1977/1978 das Quartier in den Fokus nimmt, sind viele Wohnungen nicht mehr belebt, die Straßen oft verwaist: Das Viertel ist teilweise bereits leergezogen. Es präsentiert sich ihm als eine Gegend, über der das Damoklesschwert des Abrisses noch zu schweben scheint. Minutiös und mit viel Empathie für die Dagebliebenen und die noch bestehende Bausubstanz porträtiert Thonfeld den Alltag, der trotz Mangels und kaputter Fassaden weitergehen muss. Er konzentriert sich auf den letzten Rest Leben und erkennt: Das Viertel „in seiner Landschaft kann nicht weglaufen. Es bleibt in jedem Moment der Geschichte Raum.“ 

Gartenidylle, Benkertstraße 22, 1978, Potsdam Museum │ Foto: Eberhard Thonfeld 

Wer die eindrücklichen Aufnahmen von Eberhard Thonfeld heute betrachtet, begibt sich auf eine Zeitreise, in eine untergangene Welt voller Grautöne. Die Fotografien sind künstlerisches Zeitdokument einer vergangenen Epoche, auf die nur noch wenige Spuren verweisen. Vieles hat sich verändert. Dort zum Beispiel, wo heute die Urania ihren Sitz in der Gutenbergstraße 71/72 hat, baute zu jener Zeit die Firma Schuke Orgeln – den Materialfahrstuhl von damals gibt es heute noch. An der Ecke Mittel-, Benkertstraße – wo nun ein Restaurant zu japanischen Gerichten einlädt – befand sich früher eine Bäckerei. In der Benkertstraße 23 war einst ein Kindergarten, „das junge Herz des Viertels“, wie Thonfeld es damals empfand. Das Restaurant „Zum Fliegenden Holländer“ und das heutige Sanitätshaus Kniesche, damals Herbert Fischer, existieren bis heute und sind damit vermutlich die letzten Zeugen eines Wandels, der lange brauchte, um das Viertel in seiner Schönheit und Einzigartigkeit von heute wieder erkennen zu können. Bis 1989 werden 35 Häuser restauriert. Nach 1989 ziehen sich die Arbeiten vorerst weiter in die Länge. Erst 2014 wird der Status des Sanierungsgebiets für das Holländische Viertel aufgehoben.

Blick von der Friedrich-Ebert-Straße in die Mittelstraße, 1978, Potsdam Museum │ Foto: Eberhard Thonfeld

Heute preist die Stadt Potsdam es als „das einzige geschlossene Bauensemble im holländischen Stil außerhalb der Niederlande.“ an. Mit welchem Blick auch immer man gegenwärtig durch das Areal läuft, welchen Menschen und Motiven man begegnet, ob man sich wehmütig der alten Zeit(en) erinnert oder mit Freude auf ein heute saniertes Wohn- und Arbeitsquartier schaut, eines trifft sowohl für die Zeit Ende der 1970er Jahre als auch für das Jahr 2023 zu: Die Zukunft des Holländischen Viertels lag und liegt in seiner Vergangenheit.  

Neugierig? Ein jüngst erschienenes Buch, herausgegeben vom Potsdam Museum und seinem Förderverein in Kooperation mit dem Verein zur Pflege der niederländischen Kultur in Potsdam, nimmt Sie mit auf diese fotografische Zeitreise in die späten 1970er Jahre des Holländischen Viertels.  

Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte, Förderverein des Potsdam-Museums e.V., Verein zur Pflege der niederländischen Kultur in Potsdam e.V. (Hrsg.): Ein ganzes Viertel Leben | Eberhard Thonfeld. 1978. Holländisches Viertel, Potsdam 2023, 1. Auflage, Fotografie: Eberhard Thonfeld, Text: René Granzow & Christoph Tempel

– Christoph Tempel und René Granzow in Kooperation mit dem Potsdam Museum – Forum für Kunst und Geschichte

Alle Zitate von Eberhard Thonfeld sind einem unveröffentlichten Interview von Susanne K. Fienhold Sheen entnommen, das die beiden 2022 anlässlich des Ankaufs des Fotokonvoluts durch das Potsdam Museum geführt haben.

Titelbild: Blick über die Dächer des Holländischen Viertels, 1978, Potsdam Museum │ Foto: Eberhard Thonfeld