Edle Seide im Neuen Palais
Das Neue Palais im Park Sanssouci gilt als das Schaufenster der Berlin-Potsdamer Seidenproduktion im 18. Jahrhundert. Friedrich II. hatte sein 1763-1768 erbautes Gästeschloss fast ausschließlich mit Stoffen aus einheimischen Manufakturen ausstatten lassen, um zu zeigen, welch hohe Qualität die Seidenweberei unter seiner Herrschaft erreicht hatte.
Nur eines der vielen reich broschierten oder bemalten Seidengewebe an Wänden, Fenstern und Möbeln des Neuen Palais war nicht in Preußen entstanden: Ein mit chinesischen Motiven gemusterte Atlas aus Holland. Dieser Atlas war in den Schlafzimmern der Heinrichwohnung verwendet worden (Abb. 1). Diese Raumfolge für den Bruder Friedrichs II. und seine Gemahlin befindet sich im Erdgeschoss des linken Seitenflügels im Neuen Palais. Die Wandbespannungen, Vorhänge und Möbelbezüge dort unterscheiden sich in Webart und Muster erheblich von den übrigen Seiden des Neuen Palais.
Technisch ist der Stoff komplizierter gewebt als die preußischen Ausstattungsseiden. Auch durch die Webbreite von 80 cm weicht er deutlich von den Vorschriften für Berliner Seidenwebereien ab, die eine Breite von 54 cm vorschreiben. Der sehr hohe Musterrapport (Musterwiederholung) von ca. 200 cm ist für einheimische Gewebe ebenfalls sehr ungewöhnlich. Auch das Muster (Abb. 2) weicht von den anderen broschierten Geweben im Schloss ab, die sonst aufsteigende Wellenbändern mit üppigen Blumenranken zeigen. Auf glattem Atlasgrund sind hier figürliche und pflanzliche Motive zu einem asymmetrischen Muster zusammengestellt. Dabei stehen die Größenverhältnisse in keinem natürlichen Verhältnis zueinander, zum Beispiel sind die Figuren deutlich kleiner als die Pflanzen.
Die dominierende Figurengruppe besteht aus zwei Chinesen, die einen auf einem Teppich sitzenden Herrn beschirmen und ihm Tee reichen (Abb. 3). Die Gruppe wird bekrönt von einer überdimensionalen Blüte. In der Szene darüber hat ein fuchsähnliches Wesen mit seiner spitzen Schnauze einen Fischreiher am Hals gepackt, der wiederum eine Libelle im Schnabel hält. Deren Kopf ist bereits einer Raupe zum Opfer gefallen, die sich aus einer Fantasieblüte schlängelt. Die zur Fantasieblüte gehörige Ranke entspringt einer Erdscholle, auf der ein chinoiser Pavillon mit charakteristischen Dächern und Glöckchen steht. Wiederum in der Szene darüber reißt ein Leopard einen Hirsch.
Nach oben rechts versetzt erscheint die letzte figürliche Gruppe: Hinter einem erhöhten Uferstreifen sieht man nur die Oberkörper von zwei Jägern, von denen der eine auf einem Pferd sitzt (Abb. 4). Beide Jäger halten Lanzen in den Händen und scheinen einen auffliegenden Vogel zu verfolgen, der im Verhältnis deutlich zu groß ist. Links darüber befindet sich eine große, auffällige Blüte, die gewisse Ähnlichkeit mit einer Distelblüte hat. Blätter, die als Mohnblätter identifiziert werden können, finden sich unter der Jägergruppe in dominanter Größe.
Raumtextilien mit chinesischen Dessins waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Meist handelte es sich jedoch um bemalte Tapeten aus China oder deren europäische Nachahmungen. Gewebte Chinoiserien waren dagegen seltener. Aufgrund technischer Besonderheiten und mustermäßiger Ausprägungen zählt der Atlas im Neuen Palais zu einer Gruppe chinoiser Gewebe, die kurz vor der Mitte des 18. Jahrhunderts in Holland entstanden waren. Allen gemeinsam ist, dass es sich nicht um chinesische Muster, sondern um westliche Adaptionen handelt. Die Muster vermitteln die damalige Vorstellung von China, bei der einzelne Motive, die aus Reiseberichten und Zeichnungen in Europa bekannt waren, dem Zeitgeschmack des Rokoko angepasst wurden.
In den Archivalien wird das Gewebe als „pavot mit indianischen figuren“ bezeichnet, es wurde 1768 von der Seidenhandlung Girard und Michelet aus Holland eingeführt und für 13 Reichstaler pro elle verkauft. „Pavot“ (französisch für Mohn) nannte man ihn wohl aufgrund der dargestellten Mohnpflanzen. Da die Zeitgenossen um die schlaffördernde Wirkung dieser Pflanze wussten, scheint eine Verwendung dieses Stoffes für ein Schlafzimmer adäquat. Zwischen 1789 und 1810 wurde das gleiche Gewebe auch im Schlafzimmer der Heinrichwohnung im Potsdamer Stadtschloss angebracht (Abb. 5), wo er 1945 verbrannte. Im Neuen Palais macht ihn seine holländische Herkunft zum einzigen Luxusimport unter den Seiden dieses Schlosses und damit zu einem Außenseiter unter den friderizianischen Stoffen. Warum das chinoise Gewebe gerade in den Potsdamer Wohnungen des Prinzen Heinrich angebracht wurde, konnte archivalisch nicht geklärt werden. Möglicherweise traf er den persönlichen Geschmack des Bruders Friedrichs II.
– Susanne Evers, Stiftung Preußische Schlösser und Gärten